Pausenordnung und Ruhe im Abonnement (Tages-Anzeiger, 26. April 2001)
von Daniela Kuhn
20 Minuten Ruhe, liegend, ohne Musik und Zigarette: In einem Hinterhof an der Sumatrastrasse befindet sich der erste allgemein zugängliche Ruheraum.
RA heisst nicht etwa Rechtsanwalt, sondern "Ruhe und Aktivität". Die "20 Minuten Pause. Wie Sie den seelischen und körperlichen Zusammenbruch verhindern können" ist nicht etwa der Slogan einer Gratiszeitung, sondern ein Buchtitel des amerikanischen Biochemikers Ernest Rossi. Seit gestern hat nicht nur Berlin ein Dormitorium und Barcelona öffentliche Siestaliegen, auch in Zürich kann sich fortan jede abgekämpfte Passantin, jeder erschöpfte Angestellte auf einer Mikrofasermatte ausruhen - allerdings nur während 20 Minuten. Kostenpunkt: fünf Franken, über Mittag Franken acht.
<h2>"Restpoint", nicht Schlafplätzli</h2>
Im Anfang war der Kurs: Der Zürcher Erfinder und Gestalter Moritz Lindenmayer besuchte vor zwei Jahren an der Winterthurer "Lebensschule" den Kurs "Ruhe und Aktivität". Zusammen mit neun weiteren Teilnehmenden beschloss er, den Stoff über die positiven Auswirkungen von Pausen im Arbeitsalltag umzusetzen. Lindenmayers Credo bildete die wissenschaftliche Erkenntnis der Chronobiologie, wonach der Organismus nach 90 Minuten durch Körpersignale wie Konzentrationsschwierigkeiten, das Bedürfnis, sich zu strecken und zu gähnen, eine Pause fordert. Ein Jahr später gründete die Gruppe die Firma "Ruhe und Aktivität", gestern eröffnete sie den ersten öffentlichen Ruheraum an der Sumatrastrasse 5. Um das düstere Treppenhaus zu vermeiden, ist er ratsam, sich dem Ruheraum von der Stampfenbachstrasse 34/38 her zu nähern. Dort geht es die Treppe hoch und dann links zu einem recht hässlichen Hinterhof, auf dem zwei Reihen parkierter Autos stehen. Die Bambuspflanzen und der Gong vor dem Eingang sind unübersehbar. Am Empfang bezahlen Ruhrbedürftige fünf Franken pro Eintritt und erhalten dafür eine der 15 Holzliegen und ein Frottetüchlein für unter den Kopf. Die Handtasche oder das Laptop wird in Schliesskästen deponiert. Wände und Matten sind hellgelb, auf dem braunen Linoleumboden stehen als einziger Schmuck Pflanzen.
<h2>Männlein und Weiblein getrennt</h2>
In den klösterlichen asketischen Räumen werden Männlein und Weiblein getrennt. Im Erdgeschoss liegen die Frauen, Männer dürfen es ich im ersten Stock der ehemaligen psychologischen Praxis bequem machen. Allerdings nicht zu bequem. Das heisst, sie sollten nicht gleich einschlafen und schnarchen, sondern lediglich ruhen. Denn dafür ist keine Zeit. Schliesslich nennt sich das ganze "Restpoint", nicht Schlafplätzli. Weil nach 20 Minuten die Tiefschlafphase beginnt, werden die Kundinnen und Kunden angehalten, nicht länger als 20 bis 30 Minuten liegen zu bleiben. Hart ist auch das Pausenleben: Wer friedlich einnickt, wird gnadenlos geweckt. Sofern es Platz hat, sollen ausserhalb der "Stosszeiten", also vor und nach der Mittagszeit, Ausnahmen möglich sein. Um jegliches "Schlaffeeling" zu vermeiden, ruht man ohne Decke, im Winter wollen Lindenmayer und Co. den Liegenden immerhin eine Wolldecke genehmigen.
Grossraumbüros, Natelgespräche, permanente Radio- und Musikbeschallung in sämtlichen Läden, Restaurants, Coiffeursalons: Nicht nur die SBB haben mit ihren Ruhewagen die Zeichen der Zeit erkannt. Auch manche Institutionen und Firmen, zum Beispiel die ETH Hönggerberg mit dem "Raum der Stille", bieten Ruhe als Gut an. Als Moritz Lindenmayer beim Präsidialdepartement um Unterstützung bat, schrieb Stadtpräsident Josef Estermann zurück, mit den Kirchen würde es an Ruheräumen in der Stadt nicht fehlen.
<h2>Liegematten in allen Kirchen</h2>
"Das ist mein Traum: In allen Kirchen Liegen aufstellen. Dann wären sie wieder voll", meint Lindenmayer, der mit seinem Ruheraum nichts mit östlicher Meditation oder Zen am Hut hat, sondern lediglich dem Prinzip der Ruhe verpflichtet ist: "Das passt in unsere Kultur." Im Nachhinein sei es ihm angenehm, dass das Pilotprojekt ohne Sponsoren und somit ganz nach dem eignen Gusto gestaltet wurde. "Ruhe und Arbeit" kann ruhig bleiben, das Projekt lohnt sich für die Firma finanziell bereits bei einer Auslastung von 50 Prozent. Und Lindenmayer hat bereits die Vision von dicht gestreuten Ruheräumen überlall in der Stadt. "mit RA-Logo, wie Apothekenzeichen". "Im Umkreis von 500 Meter liegen rund 400 Büros. Wir stellen uns auf eine regelmässige Kundschaft ein." Geplant sind daher "Ruheraum-Generalabos": Für den Nachmittag kostet eines 80 Franken, für den Morgen 120 Franken und eines, bei dem man auch während der Mittagszeit auftauchen darf, 160 Franken - pro Monat: das originelle Geburtstagsgeschenk oder Ruhe als Konsumgut.