Der Ruhe Raum geben (Neue Luzerner Zeitung, 04. April 2002)
Wer tagsüber ein kleines Nickerchen macht, ist deswegen noch lange kein Faulpelz. Eher im Gegenteil. Doch so einfach ist es nicht, dem natürlichen Ruhebedürfnis nachzugeben. Leider.
von Katrin Piazza
Hektik, Lärm, Hetze - von morgens um sieben bis abends weit nach Sonnenuntergang. Wie halten wir das bloss aus? Spätestens seit der Erfindung der Glühlampe wird die tägliche Aktivitätsphase des Menschen immer weiter ausgedehnt - auf Kosten der Schlafphase. Die Folgen sind bekannt: Stress und Übermüdung. Während ein Mittagsschläfchen allenfalls Kleinkindern und Senioren zugestanden wird, reagieren die meisten Menschen bei körperlichen Anzeichen von Ermüdung lieber mit dem Griff zur Kaffeetasse. "Das ist auf die Dauer falsch", meinen die Betreiber von Restpoint, dem ersten öffentlichen Ruheraum in der Schweiz. "Die Pause ist ein notwendiges Innehalten, bei dem sich Körper, Geist und Psyche regenerieren."
Seit April 2001 erhält der Ruhebedürftige im Restpoint an der Sumatrastrasse 5 in Zürich für 5 Franken ein frisches Handtuch und das Recht, auf einer von sechzehn bequemen Liegen eine halbe Stunde lang zu dösen. Die fünf Ruheräume sind bewusst schlicht eingerichtet und auch frei von Bildern oder Musik. Die Benutzer dösen, geben sich ihren Gedanken hin, schalten ab. Wer einschläft, wird zur vereinbarten Zeit sanft geweckt.
Restpoint erhielt früh schon ideelle Unterstützung von der Gesundheitsförderung Schweiz, die beabsichtigt, für ihre Mitarbeiter einen Ruheraum nach dem Zürcher Vorbild einzurichten. "Pausen sind sinnvoll", betont Walter Ostwald, Projektleiter bei dieser Stiftung, "wir sind keine Maschinen, die ständig auf Hochleistung arbeiten können."
<h2>"Ausfall bis Totalschaden"</h2>
Gerade dies aber scheint die heutige Gesellschaft von der menschlichen Leistungsfähigkeit zu erwarten. Wobei unberücksichtigt bleibt, was jeder Maschineningenieur weiss: Eine Maschine ist für eine ganz bestimmte Tätigkeit konzipiert - wird sie ausserhalb dieses klar definierten Rahmens betrieben, muss mit Ausfällen, Qualitätseinbussen oder gar mit Totalschaden gerechnet werden. Für welche Leistung ist der Mensch gemacht? Was ist sein ideales Verhältnis zwischen Ruhe und Aktivität? Die Antwort fällt individuell verschieden aus und ist kaum allgemein zu beantworten, nicht zuletzt deshalb, weil die Funktion des Schlafes selbst Forschern noch nicht restlos klar ist. Trotzdem gilt als gesichert, dass der menschliche Körper einen 24-Stunden-Rhythmus aufweist, der in zwei zwölfstündige Perioden aufgeteilt ist - mit jeweils einer Phase, in der es den Körper stark nach Schlaf verlangt: kurz vor Mitternacht und am frühen Nachmittag. Das Bedürfnis nach Ruhepausen auf die Dauer zu ignorieren heisst letztlich, gegen den natürlichen Körperrhythmus zu handeln. Die Siesta ist offenbar in allen Menschen angelegt, nicht nur in Bewohnern der Mittelmeerregion, die wir für ihre kleine "Schwäche" auch gerne belächeln.
<h2>Schläferstündchen im Büro</h2>
Das Nickerchen am Arbeitsplatz, hier zu Lande verpönt und höchstens im Geheimen praktiziert, heisst in Amerika "power nap" und wird von immer mehr Firmen als Effizienzsteigerer propagiert. Als gesunde Ergänzung eines hektischen, oft im Stehen eingenommenen Mittagessens bietet man den Mitarbeitern dort vermehrt spezielle Ruheräume, "napping lofts" genannt, für die kurze, effiziente Erholung im Liegen. Engagierte "power napper" behaupten, konzentrierter zu arbeiten und berufen sich auf zahlreiche Studien, die das mittägliche Schlummern mit dem gleichen Ergebnis bewerten. Wer 20 Minuten ausspannt, kann danach weit mehr leisten als einer, der pausenlos durchackert. In der Schweiz sei das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Ruhepausen bei Firmenleitungen ansatzweise vorhanden, konstatiert Restpoint-Mitbesitzer Heinrich Müller, was fehle, sei allerdings die Umsetzung. Dabei sei die Einrichtung eines Ruheraums weder teuer noch aufwändig. Sein Unternehmen Ruhe & Aktivität bietet beratende Seminare, nächstens auch ein Handbuch.
Walter Oswald von Gesundheitsförderung Schweiz hält die Idee für unterstützungswürdig: "Schliesslich handelt es sich dabei um einen Ruheraum, nicht um einen Schlafraum." Er ist überzeugt, dass das Ganze mehr ist als ein Modegag: "Das ist Teil eines gesünderen Lebenssystems. Der Einzelne muss wieder ein Gefühl dafür entwickeln, was ihm gut tut." Auch hektische Bahnhöfe und Einkaufszentren rufen nach öffentlichen Ruheräume. Pausen - nicht als Gegenteil von Arbeit, sondern als sinnvolle Ergänzung zur anspruchsvollen Betriebsamkeit moderner Menschen.
<h2>(Noch) keine Ruhe in Luzern</h2>
Nach dem ersten öffentlichen Ruheraum in Zürich verfolgt Restpoint jetzt weitere Projekte für öffentlich zugängliche Ruheräume in Fitness- und Gewerbecentern in den Städten Bern und Zürich. Im Raum Luzern dagegen seien keine konkreten Pläne vorhanden, sagt Heinrich Müller. Ein Fremdwort sind Ruheräume aber auch in der Innerschweiz nicht: Der Luzerner Künstler Wetz (Werner Zihlmann) hat im Musée d'histoire naturelle in Neuenburg als Ergänzung zum Projekt zur Expo.02 das Projekt "gestrandet" gestaltet - eine sandige Ruheoase für Expo-Besucher (bis Ende Jahr, www.wetzch). Heinrich Müller sieht aber auch in der Innerschweiz öffentliche Ruhebedürfnisse. Gut vorstellen könnte er sich eine Zusammenarbeit mit Autobahnraststätten an der Gotthardroute, mit dem Luzerner Bahnhof oder etwa dem Verkehrshaus. Wichtig erscheint ihm das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Ruhepausen und die Einsicht, dass Ruheräume zu einem ebenso selbstverständlichen Bestandteil einer Infrastruktur würden wie Toiletten oder Sitzungszimmer.
<h2>So nützt die Pause</h2>
In der Regel macht der Körper mit Signalen auf sein Ruhrbedürfnis aufmerksam: Gähnen, Konzentrationsabfall, Zerstreuung, Hungergefühl, Tagträume. Werden diese Zeichen regelmässig übergangen, reagieren Körper, Geist und Psyche mit Erschöpfung, Störungen oder Stress. Pausen können fast überall eingelegt werden, idealerweise erfolgen sie im Liegen und dauern rund 20 Minuten. Die Augen sind dabei geschlossen, Gedanken, Empfindungen, Stimmungen fliessen frei. Ziel ist, aus dem Tagesbewusstsein abzutauchen, ohne dabei einzuschlafen. Nach etwa 20 Minuten schaltet der Körper von selbst auf die nächste Aktivitätsphase um, und ein Gefühl von Klarheit und Erholung stellt sich ein. Optimal wären vier bis fünf Pausen von 15 bis 20 Minuten täglich.
<h2>Am Restpoint Beispiel nehmen</h2>
Heinrich Müller, Geschäftsleiter des Zürcher Ruheraumes, ist hauptberuflich Physiklehrer. Restpoint und die Firma Ruhe & Aktivität sind für ihn nur ein kleineres Nebengleis. Aber kein unwichtiges: "Ich habe schon immer das Mittagsschläfchen gepflegt", sagt der 40-Jährige, der nach einem Kommunikationsseminar die Ruheraum-Idee aufgegriffen und sie zusammen mit weiteren Interessenten aus dem ETH-Umfeld umgesetzt hat. Der Ruheraum an der Sumatrastrasse sei nach der Eröffnung vor genau einem Jahr sehr gut frequentiert worden, inzwischen habe das Interesse etwas nachgelassen. Aber nach wie vor würden vor allem Pendler, die keine andere Möglichkeit hätten, sich kurz hinzulegen, den Restpoint aufsuchen, "vom Chauffeur bis zum Private Banker", wie Müller sagt. Im Übrigen findet er es gar nicht weiter schlimm, wenn Liegen leer bleiben. Denn: "Restpoint ist für uns eigentlich primär ein Show-Raum für interessierte Firmen und Verwaltungen, die selbst einen Ruheraum schaffen wollen." Und das wäre in den Augen von Müller auch das Sinnvollste, schliesslich sei es kaum sinnvoll, meilenweit gehen zu müssen, um endlich einen Ruheraum aufsuchen zu können. Ob das Vorzeigeprojekt Restpoint und die begleitenden Seminare von Ruhe & Aktivität bei den Firmen auf fruchtbaren Boden fallen, sei schwer abzuschätzen. Schaden würde es kaum. Liegemöglichkeiten am Arbeitsplatz würden zwar da und dort angeboten, weiss Müller aus Erfahrung, doch "ein Klappbett in der Besenkammer" sei nicht das Wahre. Noch schlimmer, wenn Musikberieselung und Zigarettenrauch dazukommen. "Offene und reizarme Räume" schweben Müller vor - wie im Restpoint.