Kreativpause über Mittag (St. Galler Tagblatt, 31. Januar 2006)
Manche Unternehmen stellen ihren Angestellten eigene Ruheräume zur Verfügung. Denn entspannte Mitarbeitende leisten mehr, sind motivierter und weniger krank. Eine Erkenntnis, die in der Ostschweiz erst noch Fuss fassen muss.
von Sybil Jacoby
«Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arbeit, die Arbeitsbedingungen und die Freizeit organisiert, sollte eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein.» Dies schreibt dieWorld Health Organisation (WHO) zur Gesundheitsförderung. Während es diemeisten Unternehmen den Mitarbeitenden überlassen, auf ihr Wohl zu achten, ergreifen einige Firmen selbst die Initiative. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass beispielsweise entspannte, Mitarbeitende mehr leisten, ausgeglichener sind und weniger fehlen – und haben Ruheräume eingerichtet. Die Ruhe als kostbares Gut inmitten einer hektischen Arbeitswelt, und wenn es nur für einige Minuten über Mittag ist.
<h2>Ein Test-Ruheraum</h2>
In der Ostschweiz sind betriebliche Ruheräume rar, sofern es sie überhaupt gibt. Jedenfalls waren Anfragen bei Grossunternehmen in verschiedenen Branchen negativ. Einen Lichtblick haben wenigstens die Mitarbeitenden von Helvetia Patria in St.Gallen: Am zweiten Hauptsitz in Basel wird derzeit ein Ruheraum geprüft. VerläuftdieTestphase erfolgreich, kommt das Projekt auch in St.Gallen vor die Geschäftsleitung und wird allenfalls 2007 eingeführt. Anne Zimmerli, Leiterin Unternehmenskommunikation Schweiz, über das firmeneigene Gesundheitsförderungsprogramm «Fit+Wohl» in Basel: «Der Ruheraum ist aufgrund einer Initiative der Mitarbeitenden entstanden. Er ist mit Liegen ausgestattet, Zeitschriften zu Gesundheitsthemen liegen auf, es gibt Broschüren zu Gesundheit und Prävention zum Mitnehmen. Neben jeder Liege steht ein CDPlayer mit Kopfhörer, Entspannungs- CDs liegen bereit.»
Der Ruheraum stosse bei den Mitarbeitenden auf grosse Resonanz, allein zur Eröffnung seien über hundert Personen gekommen. Besucherlisten seien ein Indiz, ob das Interesse auch weiterhin anhalte. «Im Sinne eines erhöhten Bewusstseins für den Wert der persönlichen Gesundheit sollen Engagement und Initiative von jedem einzelnen Mitarbeitenden ausgehen. Das Fit +Wohl-Team begleitet sie auf dem Weg zu einem gesünderen Lebensstil», sagt sie.
<h2>82,6 Prozent vom Stress geplagt</h2>
Unternehmen, die im Wettbewerb bestehen wollen, benötigen leistungsfähige, motivierte und gesunde Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Realität sieht anders aus. Eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) aus dem Jahr 2000 macht deutlich, dass 82,6 Prozent aller Befragten unter Stress litten. Die finanziellen Kosten betrugen rund 4,2 Milliarden Franken. Damit steht die Schweiz europaweit im oberen Bereich einer Vergleichstabelle. «Pausen und Entspannung sind wesentliche Teile eines gesunden Arbeits- und Lebensrhythmus », sagt Erich Wiederkehr vom Suva- Pressedienst in Luzern. Diese Work-Life-Balance solle im guten Sinne auch in den Arbeitsprozess integriert werden. «Der Kurzschlaf ist eine Möglichkeit der Erholung.Dazu sind nicht unbedingt spezielle Räumlichkeiten nötig.Wenn es diese aber gibt, ist dies sicher von Vorteil.»
Der «Durchhänger» am Nachmittag gehört zum normalen Wach-Schlaf-Rhythmus unseres Körpers (siehe Kasten). Entweder man hält sich mit Muntermachern wach – oder döst im Geheimen vor sich hin. Oder legt sich kurz auf einer Matte unters Pult, was nicht jedermanns Sache ist. Nur wenige Glückliche können sich nach dem Mittagessen kurz zu Hause ausruhen – so, wie sich einst unsere Väter hinlegten.
<h2>Kosten und Imageverlust</h2>
Woran liegt es, dass betriebseigene Ruheräume selten sind? Unternehmer führen die Kosten anundfürchtenumImageverlust, Arbeitnehmer um Ruf und Stelle. Ein Bekannter, der bei einem grossen Unternehmen in St.Gallen arbeitet, will jedenfalls auch lieber anonym bleiben. «Ich bin felsenfest überzeugt, dass ein zehnminütiges Nickerchen über Mittag Goldwert ist und betrachte Firmen, die einen Ruheraum anbieten, mit Hochachtung», sagt er und erzählt, dass er sich wenn immer möglich über Mittag zu Hause rasch aufs Sofa lege. «Ich versinke sofort in den Schlaf, ruhe mich 10 Minuten aus und erwache ohne Wecker.» Danach sei er wieder voller Energie und könne den Anforderungen am Nachmittag gelassen entgegentreten.
«Unser Unternehmen stellt uns bisher keinen Ruheraum zur Verfügung, und selbst als überzeugter «Mittagsschläfer» würde ich ihn aus unternehmenspolitischen Gründen derzeit auch nicht als Erster anregen. Doch würde ich Bemühungen unterstützen, auch im Hinblick auf die Burn-out-Problematik», sagt er. Vermutlich sei die Initiative eines Unternehmens nötig, bis andere auf den Zug aufspringen würden.
Arbeitsplatz, wie die Amerikaner den Energiekick über Mittag nennen, findet man vor allem in grösseren Städten, dort,woselbst Manager diese Art der Entspannung schätzen. Zum Beispiel Peter Binz, Geschäftsstellenleiter Zürich bei PricewaterhouseCoopers AG in Zürich, sofern er nicht gerade geschäftlich unterwegs ist. «Aus Anlass des Baus unseres neuen Geschäftssitzes in Zürich-Oerlikon stand bereits in der Projektphase fest, dass wir offene Strukturen schaffen wollen: Räume für verschiedene Arbeitsbedürfnisse, aber auch Möglichkeiten für Entspannung», sagt er. «Seit dem Umzug im November 2005 stehen in unserem Ruheraum zehn Liegen, die Bilder an den Wänden sind aus Holz, die je nach Baumart einen anderen Duft abgeben. Entspannungsmusik lässt die Benutzer zur Ruhe kommen.» «Wir waren uns in der Geschäftsleitung klar darüber, dass wir dieses Selbstverständnis vorleben müssen, um den Mitarbeitenden die Schwellenangst zu nehmen. Deshalb haben wir auch eine Broschüre über Powernap verschickt, versehen mit einem Zitat einer amerikanischen Universität, wonach er der effektivste Schlaf überhaupt ist.» Die paar Regeln an der Eingangstüre zum «Sphere Room» – Zweck des Raumes, Handy-, Ess- und Sprechverbot usw. – würden problemlos eingehalten.
<h2>Brainstorming oder Relaxing</h2>
IBM Schweiz in Zürich hat sogar seit 1995 einen Ruheraum für Mitarbeitende, den sie auch in den neuen Hauptsitz integriert haben. «Wir haben ein flexibles Arbeitsplatz- und Arbeitszeitenkonzept. Deshalb bieten wir den Mitarbeitenden – ob nun frühmorgens vor einen Kundenbesuch oder spätabends danach –, einen Ort, um Gedanken zu ordnen, Brainstorming zu machen oder einfach abzuschalten», sagt Mediensprecher Jochen Reinhardt. Der Raum mit einigen Liegen werde rege genutzt und habe sich gut etabliert.
Diese Aussagen sind Musik in den Ohren von Barbara Ryser-Inderbitzin von «Ruhe und Aktivität » in Zürich, dem Zentrum für Erholungskompetenz. «Damit ein Ruheraum auch funktioniert, braucht es unbedingt eine Begleitung von oben her: Kaderleute als Vorbild, die den Powernap sozusagen als Standard einführen», sagt die Pressesprecherin. Sie bedaure es allerdings, dass selbst innovative Firmen auf eine professionelle Begleitung in der Aufbauphase verzichteten.
<h2>Matten statt Designliegen</h2>
«Ein idealer Ruheraum muss ruhig und abgedunkelt sein, darf wenig Ablenkung bieten – auch keineMusik –, sollte eherkargund schlicht eingerichtet sein. Dazu sind keine Designliegen nötig, ein paar bequeme Matten tun es auch. Wichtiger ist das Handeln», sagt sie. Denn erst im Liegen könne man in die Entspannung absinken. Barbara Ryser-Inderbitzin gibt ihre Erfahrungen auch als Lehrerin weiter: «Heutzutage sind die Kinder rund um die Uhr beschäftigt, nach der Schule kommt das Freizeitprogramm. Ich plane deshalb ganz bewusst Ruhepausen in den Unterricht ein, und die Kinder reagieren sehr stark darauf.» «Ruhe und Aktivität » hat übrigens in Zürich den ersten Restpoint in der Schweiz eröffnet: ein öffentlicher Raum, in demman sich für fünf Franken 20 Minuten lang regenerieren kann.
www.ruhe-und-aktivitaet.ch
<h2>Ruh’n oder 1000 Schritte tun</h2>
«Wir Menschen leben nach einer inneren Uhr, und Tiefs in den frühen Morgen- oder Nachmittagsstunden sind normal », sagt Dr. Elke Ullmer, Fachärztin für Innere Medizin und Pneumologie im Zentrum für Schlafmedizin am Kantonsspital St.Gallen. Diese Phasen könnten mit Powernaps gut überwunden werden. «Studien zeigen, dass dadurch die Müdigkeit abnimmt, Leistung, Konzentration und Stimmung hingegen ansteigen.» Ein normaler Schlafzyklus besteht aus Phasen mit Leicht-, Tief- und Traumschlaf. Im Tiefschlaf erhole sich der Körper richtig, doch beim Mittagsnickerchen dürfe man keinesfalls in die Tiefschlafphase abgleiten. «Wer dann aufwacht, ist schlaftrunken und fühlt sich wie erschlagen. Ein idealer Powernap dauert höchstens 20 Minuten und soll keinesfalls denNachtschlaf ersetzen. Wer es nicht schafft, soll lieber einen kurzen Spaziergangmachen. (sj.)